#gehenstattessen: Leben neben der Norm - Alltag mit fast 300 Kilo

Kohlberg
29.04.2021 - 17:16 Uhr
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Wer kann sich wirklich in einen Menschen hineinversetzen, der massives Übergewicht hat? Wie dessen Leben aussieht? Welche Grenzen ihm gesetzt sind? Peter Müller erzählt davon in einer neuen Folge seiner Serie.

Können Sie sich vorstellen, wie es sich anfühlt, wenn ein kleines Kind vor einem steht, große Augen macht und dann einen Satz sagt, der einen trifft wie der Faustschlag eines Profiboxers? Jedes Mal wieder, wenn er gesagt wird. Wenn da ein ungefiltertes, unkontrolliertes "Boah, bist du aber fett!" auf einen einschlägt. Kein irgendwie noch nettes "Du bist aber dick!" oder ein heimliches Tuscheln, das man nur erahnen kann. Können Sie sich vorstellen, wie es ist, wenn Kinder lachend auf einen zeigen – oder vermeintlich erwachsene Leute? Können Sie sich vorstellen, wie es ist, das Gefühl zu haben, dass jeder einen anstarrt, weil man einfach auffällt? Weil das Äußere einfach anders ist als bei allen Menschen um einen herum. Weil man sehr dick ist – weil ich sehr dick war.

Nein, das ist keine Einbildung, was ich da beschreibe. Das war mein Alltag – ich wog einmal fast 300 Kilogramm. Ein Alltag, den viele Menschen kennen, die durch äußere Merkmale auffallen. Größe, Gewicht, Aussehen, sichtbare Narben, Verletzungen, Prothesen – alles, was einen aus der gesellschaftlichen Norm rutschen lässt, fällt anderen Menschen auf. Während vermeintlich positive Eigenschaften mit Bewunderung einhergehen, erntet man für anderes oft genug den Spot der Menschen. Und Spot trifft tief ins Innerste. Er sorgt dafür, dass man sich zurückzieht, er frustriert. Spot verstärkt die psychischen Probleme, die zu den "negativen äußeren Merkmalen” führen. Ich habe mich zurückgezogen und den Frust in mich hineingefressen – wortwörtlich.

Kindergeplapper

Oft genug habe ich solche Einkaufssituationen erlebt und dann die Eltern von diesen Kindern "zurechtgestutzt". Zumindest, als ich mir irgendwann ein Fell angefuttert hatte, das dafür dick genug war. Denn eines ist klar: Die Kinder können nichts für ihre Wortwahl. Sie plappern ungefiltert das nach, was sie von den Eltern oder anderen Erwachsenen in ähnlichen Situationen gehört haben. Die Kinder von Eltern mit etwas besserem Sozialverhalten haben dann kein "fett", sondern ein "dick" rausgeplappert. Und ganz wenige haben es geschafft, eine Frage zu stellen: "Warum bist du so dick?"

Aber was antwortet man dann? Was kann ich schon diesem Kind entgegnen, das mich mit klugen, neugierigen Augen anguckt, wenn ich mit weit über 200 Kilo hinter dem Einkaufswagen stehe und nicht nur nach Luft, sondern auch nach Worten ringe? "Weil ich zu gerne esse!"

Aber es sind nicht nur diese direkten, bösen Erlebnisse, die mich geprägt haben. Es sind die unzähligen Einschränkungen, die den Alltag begleiten. Denn nicht nur die Gedankenwelt der Menschen ist auf eine Gewisse "Norm" ausgelegt. Auch alle Dinge um uns herum sind auf ein "Spektrum des Normalen" ausgelegt. Und wer vom "Normalen" abweicht, sammelt mit diesen Dingen oft negative Erfahrungen und hat Einschränkungen.

Bus- oder Zugfahren mit 250 oder 300 Kilo? Wenn man die Stufen schafft, kommt noch der schmale Gang zwischen den Sitzreihen und die engen und schmalen Sitze. Wege von oder zur Bushaltestelle, zum Bahnhof muss man gut planen. Die Strecken, die ich gehen konnte, waren kaum jenseits der 250 Meter.

Das Auto als Herausforderung

Herausforderung Auto fahren! Die wenigsten Gurte und Sitzbreiten sind für Menschen mit dieser Gewichtsklasse geeignet. Ich musste den Sitz immer nach ganz hinten schieben, um den Gurt rum zu kriegen. Sitze! Stühle! Sofas! Betten! Bei jedem der Dinge war die Frage: Hält mich das aus? Mal schnell essen gehen? Ja gerne, aber nur wenn die Stühle im Restaurant keine Armlehnen haben. Ich weiß nicht, wie oft ich Bilder im Internet gesucht hab, um das vorher irgendwie überprüfen zu können. Konzerte, Kino, Kultur – dasselbe Spiel. Immer dieselben Fragen: Schaffe ich die Wege? Muss ich lange stehen? Passe ich in die Sitze? Komme ich meinem Sitznachbarn unangenehm zu nahe – als dicker Sitznachbar fällt man ja doppelt unangenehm auf. Fast alles, was für die meisten Menschen normal ist – wenn wir nicht gerade eine globale Pandemie durchleben – war für mich mit diesem Gewicht nicht mehr möglich.

Auch Urlaube waren immer ein großes Problem. Fliegen ist mit mehr als 200 Kilogramm Lebendgewicht ausgeschlossen. Zug und Bus sind ebenfalls keine wirkliche Option. Also bleibt nur das, was mit dem Auto machbar ist. Ich habe die letzten 20 Jahre fast alle Urlaube ausschließlich aus dem Auto heraus erlebt. Städte und Landschaften sind vor dem Autofenster an mir vorbeigezogen. Zum Glück gibt es in meinem bisherigen Lieblingsurlaubsland Autostrände. Der Weg über die dänischen Dünen war früher für mich immer eine halbe Wüstendurchquerung und Strandspaziergänge ein Ding der Unmöglichkeit. Meine Hotels habe ich bisher nach dem Typ der Betten und der Stühle im Restaurant ausgesucht. Und danach, ob es Parkplätze direkt vor dem Hotel gibt. Bei den Toiletten habe ich immer gehofft, dass es keine Hängeklos sind. Was jedoch in den meisten Hotels der Fall ist.

Wie viel hält die Toilette aus?

Wussten Sie, dass ein nach Norm montiertes Hängeklo 400 Kilo aushalten sollte? Sollte! Aber die Angst, dass das Klo doch mitsamt mir drauf von der Wand fallen könnte, war immer dabei. Klobrillen gehen übrigens bei deutlich weniger Gewicht gerne mal kaputt. Können sie sich vorstellen, wie unheimlich unangenehm es ist, sich ständig mit solchen Themen zu befassen? Einen Urlaub so planen zu müssen? Den Alltag so zu planen?

Natürlich ist es nicht möglich alle Dinge und alle Räume so zu gestalten, dass sie von wirklich jedem uneingeschränkt genutzt werden können. Wer aus der Norm fällt, wird immer mit gewissen Hindernissen und Beschränkungen leben müssen. Aber in vielen Bereichen wären deutliche Verbesserungen ohne viel Aufwand möglich. Ein bisschen stabilere Stühle im Restaurant oder Bänke, die auch im Winter am Marktplatz stehen, damit Menschen mit Gehbehinderung sich kurz setzen können. Kleine Dinge, die das Leben der Betroffenen besser machen.

Jeder ist doch ganz "normal"

Man kann manche "Normverstöße" auch überwinden. Wie etwa ich durch mein Abnehmen. Von den 242 Kilo im Januar 2020 sind nur noch etwa 151 Kilo über und die Wege, die früher kaum zu schaffen waren, sind kein Problem mehr. Aber der Weg zu dem was als normal angesehen wird, ist auch für mich noch weit. Und viele andere Menschen werden ihre Probleme nie (ganz) überwinden können.

Für sie können wir alle aber etwas tun. Wir können die Normen unserer Gedankenwelt ändern. Und wir können uns dazu entscheiden, uns allen Menschen gegenüber positiv menschlich zu verhalten. Egal ob sie in unsere Norm fallen oder nicht. Jeder Mensch hat das Recht darauf, so akzeptiert zu werden, wie er ist. Und niemand hat das Recht, über einen anderen Menschen zu lachen, nur weil die eigene Weltsicht zu eingeschränkt ist, um etwas anderes als das eigene Selbstbild zu verstehen. Nur so können wir dafür sorgen, dass die sichtbaren Narben nicht zu noch viel schlimmeren unsichtbaren Narben und Verletzungen führen.

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