#gehenstattessen: Warum wird man überhaupt so dick?

Kohlberg
12.03.2021 - 17:38 Uhr
OnetzPlus

Peter berichtet in der Serie #gehenstattessen über seinen Abnehmweg. In den letzten Wochen gab es immer mal ein paar Fragen, die ihm immer wieder gestellt wurden. Über die zwei zentralsten spricht er in dieser Folge.

Zum Abnehmen gehört es für mich auch irgendwie dazu herauszufinden, wo meine Grenzen liegen. Die Tour auf den Wallberg hat mir diese doch recht deutlich gezeigt. Bis ganz hoch ging einfach nicht. Aber ich habe mehr geschafft, als erwartet. Und der Ausblick von da oben war den Muskelkater die Tage drauf auf jeden Fall mehr als wert.

Warum bin ich so arg dick geworden? Warum überhaupt übergewichtig? Darauf gibt es keine einfache Antwort. Neben der Veranlagung, Umwelteinflüssen und Erziehung spielt wohl eben die Psyche dabei die größte Rolle. Besonders wenn man nicht nur über ein paar Kilo zu viel redet, sondern über massives, lebensgefährliches Übergewicht. Zu viel essen, maßloses Essen ist ein Suchtverhalten. Im Rückblick denke ich, dass Essen eine Kompensation für irgendetwas war. Was genau, kann ich nicht mehr sagen. Ich war einfach schon als Kind deutlich zu dick. Schon damals muss es also etwas gegeben haben, dass ich mit meinem falschen Freund, der Schokolade, auffüllen wollte.

Ich habe es wohl auch nie wirklich geschafft, dieses Loch so zu füllen, dass es gut war. Nicht im Alter von neun Jahren, als ich schon über 60 Kilo wog und nicht mit 29 als ich mit 300 Kilo auf der Intensivstation lag. Nicht mal anschließend, als ich noch immer bei über 230 Kilo Lebendgewicht vor mich hin gefuttert habe. Wie auch. Essen war nur ein schlechter Ersatz für etwas, von dem ich bis heute nicht wirklich weiß, was mir fehlt – oder gefehlt hat. Liebe? Zuneigung? Vertrauen? Sicherheit? Selbstvertrauen? Zuversicht? Ich weiß es nicht. Ich hatte keine schlechte Kindheit, habe gute Eltern und hatte immer ein recht sicheres Zuhause.

"Der Dicke, der Doofe"

Als Teenager und als junger Erwachsener hat sich mein Gewicht ebenfalls nie in eine gesunde Richtung entwickelt. Die Erfahrungen, die ich damals gesammelt habe, waren aber sicherlich nicht gerade gut für meine psychische Entwicklung. Zurückweisungen, verlacht werden, immer nur der Dicke, der Doofe sein. Von den Mädels nicht erst genommen werden. Bei Bewerbungsgesprächen nur Absagen kassieren – und dann mitkriegen, wenn andere den Job kriegen, trotz schlechterer Qualifikation. Ja, ich hätte meinen Arsch bewegen sollen und es ändern.

Aber ich konnte es nicht. Ich habe es nicht geschafft. Ich habe mich weiter in meine Gewichtsloch reingefressen. Ich habe weiter versucht das, was mir fehlt mit Essen aufzufüllen. Ein Teufelskreis? Natürlich! Wie eben bei jedem Suchtkranken. Süchtig nach Essen. Nach der leckeren Pizza, der süßen Schokolade und der Packung Chips. Nie im Exzess, aber zusammen mit sehr wenig körperlicher Bewegung mehr als genug, um mich beständig nach oben zu schrauben. Rund zu futtern. Zu rund. Mehr Essen, weniger Bewegung, mehr Schmerzen, noch weniger Bewegung, mehr Frust und damit noch mehr Essen. Um zumindest diesen kleinen Glücksmoment beim Genuss spüren zu dürfen. Und wie jeder andere Süchtige: die Dosen mussten größer werden.

„Aber man muss doch merken, dass einem das nicht guttut?!?!“ Nein. Man ignoriert es. Man arrangiert sich. Bis zu dem Punkt an dem es endet. So oder so. Bei mir war es zum Glück so, dass ich einfach die Schnauze voll hatte von dem Leben, das mich einfach nur noch unglücklich gemacht hat. Ich wusste vor einem Jahr einfach, dass ich etwas ändern musste. Es war dieser Klick im Kopf, von dem immer alle reden. Ich wollte nicht weiter der Abgehängte sein. Mein neuer Job hat dafür gesorgt, dass ich eine Perspektive auf eine Zukunft gesehen hatte. Ich hatte da auf einmal Kollegen, Menschen, um mich rum, die mich so angenommen und wertgeschätzt haben, wie ich war. Für das was ich war und was ich konnte. Trotz meines Gewichts.

Das klingt jetzt ein bisschen, als wäre das vorher nicht so gewesen. Ich hatte Freunde, die mich so angenommen haben, wie ich war. Eine Partnerin und eine Familie dazu. Aber die Perspektive hat gefehlt. Oder besser gesagt, das Gefühl, dass ich so wie ich war, viel mehr verpasse, als mir mein Leben zu bieten hätte. Ich war fast 40 und hatte nicht viel erreicht, keine wirklichen Reisen gemacht, kein eigenes Haus, keine eigene Zukunft. Und nun war da die Aussicht auf eine neue Sicherheit und eine Zuversicht, dass das, was da ist, okay ist. Dadurch habe ich gemerkt, was noch besser sein könnte.

Endlich was erleben

Abnehmen und endlich mein Leben wirklich leben können. Nicht nur die schönen Orte auf dem Bildschirm sehen. Nicht nur die Geschichten von anderen hören, sondern auch Geschichten selbst erzählen können – wahre Geschichten. Dieses Gefühl war es, dass mir den Ansporn gegeben hat und auch noch immer gibt, weiterzumachen und weiter abzunehmen. Wegen diesem Gefühl habe ich verstanden, dass essen nicht dazu führt, dass in meinem Leben etwas gut wird. Dass gutes Essen zwar auch weiter zu meinem Leben gehören kann und muss, ich aber nicht grenzenlos viel essen muss, um mich dabei gut zu fühlen.

Die Zigarette danach macht den Sex nicht besser. Der Vollrausch macht den Abend nicht schöner. Mehr zu essen, macht das Leben nicht besser. Es ersetzt nicht das, was man sucht. Es führt eher dazu, dass man noch mehr verliert – zumindest Lebensqualität. Und warum klappt es jetzt dieses Mal mit dem Abnehmen? Weil ich die richtige Unterstützung habe und einfach, weil ich leben wollte. Ich wusste, wo es enden kann, und das wollte ich nicht. Ich wollte auch mit 80 auf ein gutes Leben zurückschauen. Auch wenn ich die ersten 40 Jahre davon schon ziemlich verschwendet hatte.

Bestandsaufnahme

Wo stehe ich gerade? Die letzten Monate war ich etwas körperlich eingeschränkt. Covid, Ischias, dann einfach nur dunkel, Lockdown, keine regelmäßige Bewegung, keine Fitnessstudios, nicht wirklich viel Zeit zum Spazierengehen. Das waren alles gute Ausreden, um mich etwas auf dem Erreichten auszuruhen. Inzwischen hat sich das wieder geändert. Auch wenn noch etwas die Konstanz fehlt, es wird wieder besser. Die aktive Zeit wird mehr. Die gelaufenen Strecken werden länger.

Ich habe im Februar mehrere persönliche Höchstleistungen aufgestellt: die meisten Schritte (über 28000 an einem Tag), die längste Strecke ohne Pause (10 Kilometer), die längste Strecke überhaupt (11 Kilometer), die meisten Höhenmeter (über 700). Und ein neues Gewicht – wenn auch nicht viel weniger: 152,8. Aber es geht weiter - zusammen mit einem wundervollen Menschen. Einer Frau, die mich motiviert, anspornt, mich mitzieht und mir zeigt, wie schön das Leben ist.

Die Winterpause ist rum. Es gab seit Januar 2020 nur zwei Monate, in denen ich mehr Schritte gegangen bin, als in diesem Februar. Ob Der März genauso aktiv wird, hängt vom Wetter ab. Ich hoffe es auf jeden Fall.

Wie weit das auch für andere stimmt oder stimmen kann, was ich für mich selbst an Antworten gefunden habe, wird Markus Wittman, ärztlicher Direktor am Bezirksklinikum in Wöllershof, im hier folgenden Interview einordnen. Er wird mich in der nächsten Zeit öfters bei entsprechenden Artikel-Themen unterstützen und an manchen Punkten seine Fachsicht auf all das mit einbringen, was ich nur subjektiv und persönlich schildern kann.

Das sagt der Experte

ONETZ: Wodurch entsteht Übergewicht?

Dr. Markus Wittmann: Wenn Kinder übergewichtig sind, ist die Frage, wodurch das ausgelöst wird: Bewegungsmangel, Ernährung, Umfeld? Oder ob dahinter eine Essstörung steht. Nicht jedes Übergewicht ist eine Essstörung. Und bei den Auslösern für Essstörungen gibt es ein Henne-Ei-Problem: War zuerst ein leichtes Übergewicht da oder eine psychische Störung? Auf jeden Fall nimmt man Übergewicht in der Kindheit in seine gesamte Persönlichkeitsentwicklung mit. Was dann zu Essstörungen und psychischen Erkrankungen führen kann.
Wenn ein Kind oder ein Jugendlicher eine Essstörung entwickelt, muss es auch kein traumatisches Erlebnis gegeben haben. Gerade für Kinder ist ein richtiges Maß an Fürsorge wichtig. Fürsorge spricht das Belohnungszentrum im Gehirn an. Wird dieses nicht genug oder falsch angesprochen, sucht man nach einem Ersatz. Das Gehirn hat Hunger auf Belohnungen. Dabei sind die ersten Jahre im Leben die Wichtigsten.
Diesen „Hunger“ kennt man auch als Erwachsener. Nach einem schweren Tag in der Arbeit möchte man sich mit etwas Gutem zu Essen belohnen. Wird das Belohnungszentrum durch Essen zu stark angesprochen, kann es zu sogenanntem Binge Eating kommen – unkontrollierten Essanfällen.

ONETZ: Wie schafft man es dann abzunehmen?

Dr. Markus Wittmann: Der „Hunger im Gehirn“ muss anders gestillt werden. So führen etwa die kleinen Erfolge beim Abnehmen dazu, dass das Belohnungssystem ebenso positiv angesprochen wird. Wenn man sich Ziele setzt und diese erreicht, sind das auch Erfolge. Geleichzeitig kann man sich dafür zusätzlich mit etwas belohnen. Auch darf es bei Rückschlägen keine Bestrafung geben – Rückfälle sind Symptome, keine Schwäche. Verbote verschlimmern den Hunger im Gehirn nur.
Das Wichtigste und Nachhaltigste ist es zu lernen, sich in einem „Graubereich“ zu bewegen. Einem ausbalancierten Bereich, in dem es nicht zu viele Verbote gibt und gleichzeitig die Dinge, die man macht als echte Belohnung wahrgenommen werden – auch beim Essen. Ebenso ist es wichtig, sich selbst gegenüber achtsam zu werden. Achtsam zu essen, sich bewusst zu machen, was man isst, wieviel man isst, warum man isst und sich klar darüber werden, was einem guttut.

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Oberpfalz30.12.2020
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Kohlberg05.02.2021
 
 

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