Während dieser Höllenfahrt, die mitunter einem psychedelischen Drogentrip durch von Hieronymus Bosch gemalte Bilderwelten gleichkommt, hat man als Leser das Gefühl, man fängt an zu levitieren. Also zu schweben, befreit von jeglicher Gravitationskraft. Das geschieht bei Erleuchteten, wie die Psychokinese lehrt, ohne jegliche Hilfsmittel.
Für uns Normalsterbliche gibt es dafür die Literatur. Jedenfalls wenn sie so bildmächtig geschrieben ist wie von dem 1956 in Bukarest geborenen Mircea Cartarescu. Schon mit seiner 2000 Seiten umfassenden Romantrilogie "Orbitor" hat er bewiesen, dass er momentan einer der sprachmächtigsten Autoren der Gegenwart ist.
Hätte man bloß mal ihm den Literaturnobelpreis 2019 verliehen, sagte sein übrigens kongenialer deutscher Übersetzer Ernest Wichner bei der Buchvorstellung im Passauer Scharfrichterhaus. Dann hätte man jetzt nicht diesen Ärger mit Peter Handke an der Backe. Dafür aber einen mindestens genauso würdigen Meisterliteraten, wie der soeben auf Deutsch erschienene Roman "Solonoid" beweist. Um was geht es? Um einen in Bukarest lebenden Autor, der zwar im Buch keinen Namen hat, ansonsten aber auffallend viele Gemeinsamkeiten mit Mircea Cartarescu: dieselben Eltern, dieselben Anomalien (zum Beispiel eine pubertäre Lesesucht, mit der er 200 Bücher pro Jahr verschlingt), dasselbe Aufwachsen in der "traurigsten Stadt auf dem Erdenrund", in Bukarest nämlich während der Jahrzehnte des Ceauşescu-Kommunismus.
Total gescheitert
Einen entscheidenden Unterschied allerdings gibt es: Während der "wahre" Cartarescu als Literat international allerhöchste Reputation genießt, ist der "fiktive" im Buch total gescheitert. Und zwar seit er als Student in einem Lesezirkel sein - wie er glaubte - unsterbliches Langpoem "Niedergang" vorgelesen hat. Leider wurde es unisono verrissen.
Von diesem Zeitpunkt an beginnt der zutiefst verletzte Autor einen radikalen Rückzug. Nicht dass er zu schreiben aufhört, nun fängt er erst richtig an. Er schreibt - wie der "reale"Cartarescu auch - mit der Hand in Schulhefte, ohne jemals auch nur ein Wort zu verändern, "das für alle Zeiten obskure Werk eines Anti-Schriftstellers". Will sagen: ein Buch von radikaler Subjektivität, ohne nacherzählbare Handlung, stattdessen eine obsessive Selbsterkundung mit Ausflügen in surreale Traumwelten.
Letztere, die Traumwelten, beginnen schon mit dem Haus, in dem der Schriftsteller wohnt. Es steht in der Strada Maica Domnului. Diese Straße gibt es tatsächlich, so wie sich die zahlreichen Ortsangaben im Buch verblüffend genau an den Bukarester Stadtplan halten.
Doch in dem Moment, wo Cartarescu mit seiner Beschreibung anfängt, verwandelt sich alles in Traumwelten: "Über den Dächern erheben sich wie als Vorwurf oder Empörung gen Himmel gestreckte Arme großer Versehrter, bizarre und verrostete Ornamente, Türmchen und Blechkuppeln, vulgäre Betonstatuen mit beschädigten Gesichtern sowie Rotten von blassrosa gestrichenen Engeln, die an eine Prozession von Larven erinnern." Das Schriftstellerhaus selber hat die Form eines Schiffes.
Und - jetzt kommt's - im Keller verborgen eine riesengroße Magnetspule, den titelgebenden "Solonoid". Wird der unter Strom gesetzt und baut sein Magnetfeld auf, beginnt alles im Haus zu levitieren. "Nun schlief ich stets zwischen Bett und Zimmerdecke in der Luft schwebend", schreibt der Autor in sein monströses Tagebuch.
Starke Bodenhaftung
Nun könnte man sagen, das ist eben eine Metapher dafür, dass dieses Buch abhebt von den Realitäten. Das tut es in nicht wenigen Passagen in der Tat ganz beträchtlich. Als Leser kann einem schon schwindelig werden, vor allem wenn es an die Schilderung des Untergrundes der Stadt geht, an deren Peristaltik sozusagen, oder an die der Leichenschauhäuser und Fabrikruinen.
Nichtsdestotrotz hat das Buch auch eine starke Bodenhaftung. Der Held zum Beispiel muss einer Arbeit nachgehen, nachdem es mit der Literatur nichts geworden ist. Er wird Rumänischlehrer in einer verkommenen Stadtrandschule. Wie Cartarescu, der diesen Job einmal selbst ausübte, den Schulalltag während der Zeit des Kommunismus schildert, ist von umwerfendem Detailreichtum, aber oft auch ungebändigter Komik.
Gerade in den Porträts der Lehrerkollegen gelingen ihm Meisterstücke, etwa wenn er eine attraktive Mathematiklehrerin als "einen sinnlichen Tsunami" schildert, von dem es heißt: "Eine solche Frau konnte man sich nicht wünschen, hier konnte man bloß ergeben die Pheromone [= Duftstoffe] einatmen, die ihr wie bernsteinfarbenes Licht entströmten, und zusehen, dass man weiterkam mit seinem armseligen Leben."
Das tut auch der Ich-Erzähler, schauen, dass er weiterkommt. Vor allem mit seinem anwachsenden Manuskript, das schließlich alle Dimensionen sprengen wird. "Es ist kein Buch und noch viel weniger ein Roman: Es ist ein Fluchtplan." Und zwar einer, der aus dem menschlichen Dasein an sich herausführen soll. Denn das wird als eine Abfolge unermesslichen Leids, nicht aushaltbarer Schmerzen und völlig zermürbender Sinnlosigkeit dargestellt.
Zumindest eine beträchtliche Strecke des Buches lang. Wenn es etwa um die frühen Kindheitserfahrungen des Helden geht, um quälende Zahnarztbehandlungen oder einen monatelangen Sanatoriumsaufenthalt für TBC-kranke Kinder ... das Ganze ähnelt mehr einem Straflager. Erst im letzten Viertel des Buches stellt sich doch noch eine Wende ein, und zwar in Gestalt einer Frau Namens Irina.
Eine Liebesgeschichte
"Solonoid" ist nämlich auch eine Liebesgeschichte, kein Wunder, wo doch dieses Buch alles sein will, eine eigene runde Welt für sich. Der Sex mit Irina ist außergewöhnlich, levitierend über allem, der Solonoid im Schiffshaus macht es möglich. Eine Tochter wird gezeugt und auf sie alle Hoffnung am Ende des Buches projiziert.
Das mag dem ein oder anderen in seiner Überhöhung grenzwertig erscheinen. Vieles an diesem Buch ist grenzwertig, weil es große, so kaum mehr vorkommende Sprachkunst ist. Weil sein Autor sich vorgenommen hat, auf nichts und niemand Rücksicht zu nehmen. Schließlich ist er kein gewöhnlicher Romanautor. "Hätte er zu levitieren vermocht, wenn seine überquellend mit Ruhm gefüllten Taschen ihn zu Boden gezogen hätten?"Nun ist aber Mircea Cartarescu tatsächlich ziemlich ruhmbeladen. Und levitiert trotzdem, mit diesem unglaublichen literarischen Wunderwerk. Welch ein Triumph!
Mircea Cartarescu: Solenoid. Roman. Aus dem Rumänischen von Ernest Wichner, 904 Seiten, 36 Euro, Zsolnay-Verlag
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