Von Stephanie Wilcke und Michael Zeißner
Das soll laut Polizei passiert sein
Weder waren die Attacken und Übergriffe einer Gruppe Jugendlicher an jenem Abend des 29. Dezember 2018 geplant, noch kannten sich Täter und Opfer: Das ist die Quintessenz einer Pressekonferenz der Kriminalpolizei und Staatsanwaltschaft in Amberg am 1. April, die über die abschließenden Ermittlungsergebnisse berichten sollte. Der Tatablauf laut Polizei: Gegen 18.40 Uhr ereignete sich demnach eine Körperverletzung gegen einen 13-jährigen Schüler. Insgesamt zählten die Beamten sechs Straftaten in dem Umfeld, vor allem Körperverletzungen und Beleidigungen. Es gingen unabhängig voneinander Notrufe bei der Amberger Inspektion und in der Einsatzzentrale ein.
Die Polizei fahndete sofort nach der Gruppe, fand die Jugendlichen jedoch nicht. Dann passierte eineinhalb Stunden laut Aussage der Beamten nichts, weil sich die 13-köpfige Gruppe im Stadtgraben aufhielt. Man müsse auch davon ausgehen, dass nicht immer die dieselben vier Jugendlichen Straftaten verübten, sondern in "wechselnder Besetzung". Gegen 20.30 Uhr, die Polizei nennt das Tatkomplex B, wurden fünf Straftaten am Multifunktionsplatz verübt. Einige Jugendliche, die mit dem Bus nach Nabburg in eine Disco fahren wollten, kamen auf ihrem Weg zum Bahnhof an den Asylbewerbern vorbei. Sie attackierten die anderen Jugendlichen verbal, schubsten und ohrfeigten. Auch mit Faustschlägen sollen die passierenden jungen Leute traktiert worden sein. Sie flüchteten vor den Asylbewerbern in Richtung des Schnellrestaurants Subway.
Der dritte Tatkomplex dreht sich um die Vorfälle am Bahnhofsvorplatz und am Restaurant. Die Polizei spricht hier von sieben Straftaten. Die Gruppe hatte einen Jugendlichen aus der geflüchteten Gruppe eingeholt, zu Boden geworfen und mit Fäusten sowie Tritten verletzt. Keine Belege gibt es bislang, dass einem weiteren Geschädigten eine leere Bierflasche über dem Kopf zerschlagen wurde. Ein Autofahrer, der eingreifen wollte, wurde laut Polizei selbst zum Opfer. Die vier mutmaßlichen Täter verletzten ihn mit Tritten und Faustschlägen. Ebenso erging es zwei anderen Passanten. Im Restaurant hielten die Jugendlichen die Türe zu, beziehungsweise versperrte eine Angestellte den Eingang, damit die aggressiven Teenager nicht hereinkamen. Über den Kaiser-Ludwig-Ring verschwanden die Jugendlichen.
Im vierten Tatkomplex werden den vier jungen Asylbewerbern zwei Straftaten vorgeworfen: Einer rutschte am Kaiser-Ludwig-Ring aus, weshalb ein Autofahrer eine Vollbremsung einleiten musste. Der junge Mann trat gegen das Heck des Autos und lief davon. In der Bahnhofstraße wurden anschließend zwei Passanten attackiert. Unvermittelt und scheinbar grundlos kassierte einer der beiden Faustschläge und ging zu Boden. Mit dem Fuß wurde er noch liegend getreten. Die mutmaßlichen Täter flüchteten in die Obere Nabburger Straße.
Zwölf Minuten nach der letzten Straftat klickten in der Einmündung der Oberen Nabburger Straße in das Schanzgäßchen um 21.04 Uhr die Handschellen. Im letzten Tatkomplex zählten die Beamten fünf Straftaten. Unter anderem wurden Polizeibeamte beleidigt, einer kassierte Schläge auf den Arm. Bei einem weiteren Beschuldigten fand man eine geringe Menge Cannabis.
Die Polizei berichtet, dass insgesamt 21 Personen geschädigt wurden, darunter vier Polizeibeamte. Körperliche und teilweise psychische Schäden erlitten demnach 15 Menschen.
Beschuldigt werden vier junge Asylbewerber, darunter drei Männer aus Afghanistan im Alter zwischen 17, 18 und 19 Jahren sowie ein 18-jähriger Iraner. Alle befinden sich seit der Festnahme noch immer in Untersuchungshaft.
Drei der jungen Männer kamen am 29. Dezember 2018 aus Regensburg angereist, einer aus Auerbach. Die Polizei weist daraufhin, dass die Gruppe unter Einfluss von Alkohol stand, zudem hatten drei Betäubungsmittel konsumiert. Bei einem Discounter in der Nähe des Bahnhofs versorgten sie sich schon am späten Nachmittag mit Alkoholika.
Das teilt die Staatsanwaltschaft Amberg mit
Der leitende Staatsanwalt in Amberg, Oliver Wagner, erklärt, dass die vier Beschuldigten nach derzeitigen Erkenntnissen zwischen 17 und 19 Jahre alt waren. „Sie sind daher im Sinne des Strafrechts Jugendliche beziehungsweise Heranwachsende.“ Das genaue Geburtsdatum wenigstens eines der Beschuldigten sei derzeit zweifelhaft, wobei die Eigenschaft als Jugendlicher beziehungsweise Heranwachsender nicht betroffen sei. „Ob das bekannte Alter der Beschuldigten zu hinterfragen und dann rechtsmedizinisch zu überprüfen sein wird, kann erst beurteilt werden, wenn die Akten der zuständigen Ausländerbehörden übersandt worden sind.“
Erfahrungsgemäß könne gerade die Registrierung von Geburten in den ländlichen Regionen der möglichen Herkunftsländer - jedenfalls in Krisenzeiten - unzuverlässig sein, sodass bei Flüchtlingen auch ohne deren Verschulden verschiedene Geburtsdaten im Raum stehen könnten.
Ursprünglich ging die Polizei davon aus, dass die Beschuldigten ein Syrer, zwei Afghanen und ein Iraner seien. „Mittlerweile gibt es allerdings seitens des Innenministeriums auch Hinweise, dass drei Beschuldigte afghanische Staatsangehörige und einer iranischer Staatsangehöriger sein könnten.“ Die Aslyanträge der jungen Männer, die 2015 beziehungsweise 2016 nach Deutschland einreisten, wurden alle abgelehnt. Zwei der Angeschuldigten sind nach Aussage Wagners bereits einschlägig vorbestraft und "wurden teilweise mit Jugendarrest abgeurteilt". Andere seien nicht aufgefallen beziehungsweise im "Bagatellbereich".
Nach allgemeinem Strafrecht würden die Vergehen mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren, in minder schweren Fällen mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren, bestraft. „Bei einer Verurteilung nach Jugendstrafrecht kann Jugendstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren bei Jugendlichen und von sechs Monaten bis zu zehn Jahren bei Heranwachsenden verhängt werden.“ Einem Mann liege darüber hinaus ein tätlicher Angriff auf Vollstreckungsbeamte mit Beleidigung zur Last.
Wagner widerspricht Berichterstattungen, die mitteilten, dass es sich bei den Vorwürfen um eine mehr als drei Stunden andauernde Tat handelte. „Es geht um wenigstens zwei Vorfälle gegen 18.45 Uhr und um wenigstens zwei weiteren Vorfälle etwa gegen 20.45 Uhr.“ Die Polizei nahm die vier Männer um 21.04 Uhr fest.
Über das Motiv der vier Beschuldigten, warum sie Passanten angriffen, kann die Staatsanwaltschaft derzeit noch keine konkrete Aussage treffen. Ausschließen könne man zum gegenwärtigen Zeitpunkt aber einen terroristischen Hintergrund.
So reagiert die Politik
Als am Sonntag, 30. Dezember, die Polizei einen Bericht über die Vorfälle an die Presse herausgibt, meldet sich noch am Abend Oberbürgermeister Michael Cerny zu Wort. Er zeigte sich entsetzt über die Gewalt und Brutalität: "Der Vorfall ist ein absolutes No-Go in unserer Stadt. Solche Szenen wollen wir in Amberg nicht haben und wollen wir in Amberg nicht sehen." Natürlich müsse sich der Blick zuerst auf die Opfer der Prügelei richten. "Ich hoffe sehr, dass sie sich schnell erholen und das Erlebte gut verkraften." Die geschilderten Taten müssten mit der angemessenen Härte des Rechtsstaats verfolgt werden, um zu zeigen, dass diese Handlungen mit der notwendigen Konsequenz geahndet würden.
Es ist ein Thema, dem sich auch die NPD aus Nürnberg annimmt: Sie postet am Neujahrstag Bilder eines Spaziergangs durch Amberg. Oder wie es die Gruppe nennt: Man errichte eine "Schutzzone". Auf den Fotos sind vier Männer zu sehen, die rote Warnwesten tragen. Sie posieren vor dem Rathaus, gehen die Bahnhofstraße entlang und laufen demonstrativ an einer Asylbewerber-Unterkunft vorbei. Dabei werden sie wohl beobachtet, denn nur einen Tag später sagt Oberbürgermeister Michael Cerny, dass ihm von einer "Rechten Patrouille" in Amberg berichtet wurde. Das greifen zahlreiche Medien auf, die Polizei prüft die Hinweise zur angeblich rechten Bürgerwehr. Wiederum einen Tag später kommt das Dementi aus dem Rathaus: Beim Redaktionsnetzwerk Deutschland wird ein Sprecher zitiert: „Es hat im Stadtbild nie eine solche Patrouille und auch keine rechte Bürgerwehr gegeben.“
Doch die (Nachrichten-)Welle schwappt weiter: Auch weil sich am 2. Januar 2019 Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) in einem Bild-Zeitungsinterview zu Wort meldet. Darin fordert er strengere Abschieberegelungen. Aus der Opposition hagelt es bundesweit Kritik: Für den Fall in Amberg sei die Polizei und nicht der Gesetzgeber zuständig, teilt Linken-Parteichef Bernd Riexinger mit. „Wir brauchen keine Sondergesetze für bestimmte Personengruppen.“ Die AfD möchte, dass die Tatverdächtigen unverzüglich - ohne Gerichtsverfahren - abgeschoben werden sollen.
OB Michael Cerny im Heute-Journal des ZDF
Spätestens jetzt ist der Amberger Abend vom 29. Dezember 2018 auf allen Fernsehkanälen ein Thema: Cerny ist live ins ZDF-Studio des Heute-Journals zugeschaltet, das Nachrichten-Magazin des Spiegel berichtet, genau wie die Süddeutsche. Auch im Ausland weiß man nun, wo die Oberpfalz und Amberg liegen. Und man liest, dass vier junge Asylbewerber zwölf Passanten grundlos angegriffen haben. Etwa 30 Presseanfragen hätten ihn in diesen Tagen erreicht, sagt Cerny. An drei Tagen stehen Übertragungswagen auf dem Marktplatz. Während der Oberbürgermeister ein Interview in seinem Amtszimmer gibt, warten schon die nächsten Journalisten im Vorzimmer.
Am 3. Januar 2019 kündigen sich Bayerns Innenminister Joachim Herrmann sowie die AfD-Fraktionsvorsitzende Katrin Ebner-Steiner zu einem Besuch in Amberg an. Letztere will "mit Bürgern ins Gespräch kommen", wird allerdings nicht in der Stadt gesichtet. Schließlich wird sie bei der Polizei empfangen. Herrmann indes lobt bei einer improvisierten Pressekonferenz im Historischen Rathaussaal den "schnellen Fahndungserfolg der Polizei" und verspricht, dass die Präsenz der Beamten in der Innenstadt ausgeweitet werde. "Die gemeinsame Intention war, die Tat richtig einzuordnen und dass der Ball wieder flacher gespielt wird", sagt Cerny später über die Stippvisite.
Der Amberger Fall im Netz und den Sozialen Medien
Rund 700 Kommentare haben die Sozialen Medien unserer Hauses in der ersten Januarwoche zu dem Fall der vier Asylbewerber erreicht. Das ist sehr viel für ein regionales Haus wie es Der Neue Tag beziehungsweise Oberpfalz-Medien ist. Unter den Postings war große Anteilnahme für die verletzten Opfer zu lesen. Augenscheinlich war sie echt - und sie stammte wohl auch von Bürgern aus Amberg und der Region. Menschen von hier.
Doch irgendwann kippte die Stimmung. Spätestens als die Autoren von offensichtlich gefakten Profilen zu pöbeln begannen, zu Hetze und Gewalt aufriefen, spielten die zwölf Amberger Opfer und ihr Leid längst keine Rolle mehr. Plötzlich kamen die "Kommentatoren" nicht mehr nur aus ganz Bayern, sondern aus ganz Deutschland. Als die Redaktion mit dem Verweis auf Verstöße gegen unsere "Nettiquette" Kommentare löschte, suchten sich genau jene Hetzer andere digitale Plattformen unseres Hauses. Unter Artikeln und Videos, die überhaupt nichts mit dem Thema zu tun hatten, versuchten sie dort, ihre fremdenfeindliche und verunglimpfende Meinung zum Amberger Vorfall loszuwerden.
OM-Kollege Alexander Unger spricht mit dem BR über die Reaktionen im Netz
Ambergs Oberbürgermeister Michael Cerny betreut seinen Facebook-Auftritt selbst. Natürlich hat er sich in den Tagen nach der Tat auch auf dieser Plattform geäußert. Für seine Reaktion und die dafür gewählten Worte gab es Lob von vielen. Unter den mehr als 500 Kommentaren unter seinen Postings sind aber auch einige saftige Entgleisungen dabei. Cerny sagt im Rückblick, dass er irgendwann aufgehört hat, diese wirklich zu lesen. "Ich habe ich einen Schutzschirm aufgebaut und die Beiträge nur überflogen. So etwas frisst sonst deinen Energiespeicher leer. Das ist auch die einzige Intention vieler Schreiber." Als Konsequenz dieses Shitstorms lässt er nun nicht mehr öffentlich von Jedermann kommentieren, sondern nur noch von sogenannten Facebook-Freunden. "Das sind Amberger beziehungsweise Menschen, die ich kenne. Bei den Kommentatoren waren so viele offensichtlich gefakte Accounts dabei. Sie sind nur dazu da, um mit unterschiedlichsten Alias-Namen zu hetzen."
Reaktionen aus Amberg
Plötzlich steht nicht nur der Oberbürgermeister von Amberg im Blitzlichtgewitter, sondern auch die Menschen, die sich tagtäglich hier in der Region um Asylbewerber kümmern und viel mit den gerade jungen Flüchtlingen zu tun haben. Was sagen sie dazu, dass durch die Vorfälle erneut eine deutschlandweite Debatte über Migranten losgetreten wird?
Trotz aller Demontage: Angela Merkel hatte im Grunde doch recht
Manche Produktnamen oder Slogans haben das Zeug zum Synonym. Uhu und Tempo beispielsweise oder „Geiz ist geil“. Als sich Ex-Regierender-Bürgermeister Klaus Wowereit vor vielen Jahren als schwul outete und dieses sehr persönliche öffentliche Eingeständnis abschließend mit dem Satz „und das ist gut so“ kommentierte, war ein neues Synonym für den Politikbetrieb geboren. Die Wowereit-Floskel steht inzwischen für eine Tatsachenfeststellung im Zusammenhang mit einem zuvor oder immer noch strittigen Umstand und dessen abschließende Bewertung. Im Grunde wurde „und das ist gut so“ zu einer beschönigenden, positiv klingenden Basta-Formulierung. Wer heute „wir schaffen das“ zitiert gibt sofort zu erkennen, dass er Angela Merkels Flüchtlingspolitik von vornherein nicht teilte und als gescheitert verurteilt. Warum eigentlich? Ein positiv formulierter Appell, der auf die Zuversicht und das Selbstvertrauen baut, unter großen Anstrengungen eine große Herausforderung zu meistern, wird als solcher nie aufgenommen. Stattdessen degenerierten diese wenigen Worte binnen kürzester Zeit zu einer politischen Beschimpfungsformel. Jeder Fußball-Trainer wird seiner Mannschaft vor einem schweren, entscheidenden Spiel ein „wir schaffen das“ mit auf den Weg geben, ansonsten würde er wegen mangelnder Fähigkeit zur Motivation seines Teams entlassen. Bei Angela Merkel und der Flüchtlingspolitik galten jedoch ganz andere Gesetze. Das Volk wollte nicht gewinnen und wäre am liebsten überhaupt nicht zu diesem Spiel, das ihm aufgezwungen wurde, antreten, weil der deutschen Gesellschaft der Wille und die Fähigkeit zur Solidarität wohlstandsbedingt abhandengekommen sind. Völlig unabhängig von parteipolitischen Unterschieden in der Bewertung muss aber festgehalten werden, dass Angela Merkel mit „wir schaffen das“ sehr wohl recht gehabt hat. Vier Jahre später ist der unkontrollierte Flüchtlingszustrom abgeebbt, wurde weitgehend kanalisiert und hat nicht einmal annähernd die Obergrenze erreicht, über die so erbittert gestritten wurde. Zudem hat kaum ein anderes europäisches Land diese Herkulesaufgabe so human in den Griff bekommen wie Deutschland. Das Spiel, das sich das Volk nie aufdrängen lassen wollte, wird dennoch nicht abgepfiffen, weil daraus immer noch politisches, meist populistisches, Kapital geschlagen werden kann.
Michael Zeißner