Eine österreichische Familie beim gemeinsamen Mittagessen: Die Tochter beschwert sich beim Vater, dass sie doch gerne etwas anderes hätte - das Brot sei zu alt und hart. "Kein Brot ist hart. Hart ist es, wenn man kein Brot hat", mahnt der Vater. Bei der Familie durfte nichts verschwendet werden. Äpfel mussten komplett gegessen werden, am "Hendl" durfte kein Fetzen Fleisch übrig bleiben. Warum der Vater den drei Kindern beibrachte, dass kein Nahrungsmittel weggeschmissen wird, ist ihnen erst später klar geworden.
Viereinhalb Jahre war Ernst Reiter wegen "erschwerter Gehorsamsverweigerung" im Konzentrationslager Flossenbürg inhaftiert. Dort erlebte er Traumata, Leid, Hunger und Schwerstarbeit. Rund 80 Jahre später berichtet Tochter Ingrid Portenschlager die Geschichte des Vaters Wirtschaftsschülern in Weiden. Auch wie sich die Situation damals auf die Kinder ausgewirkt hat. Das Thema sei für sie wichtiger denn je: "Viele sind sich nicht bewusst, was die damalige Zeit für die Menschen bedeutet hat. Es ist wichtig, aus der Vergangenheit zu lernen."
Reiters Kindheit war geprägt von Verlusten. Der Vater kämpfte im Ersten Weltkrieg, kam völlig traumatisiert nach Hause und beging zusammen mit seiner Frau Suizid. Der elfjährige Ernst kam bei der Großmutter und Tante unter. Dort verkehrten "Bibelforscher" - die Zeugen Jehovas. Er fand zum Glauben. Der sorgte auch dafür, dass sich Reiter fest entschloss, keinen Wehrdienst zu leisten. "Durch meine Hand wird keine Frau zur Witwe und kein Kind zum Waisen", erklärte er bei einem Verhör zu Beginn des Zweiten Weltkriegs. Es folgte ein Gefängnisaufenthalt auf dem Truppenübungsplatz Grafenwöhr. Nach der Haft bekam er ein weiteres Mal die Möglichkeit, den Wehrdienst anzutreten. Er verweigerte erneut. 1941 folgte die Deportation nach Flossenbürg.
"Häftling 1935"
Im Konzentrationslager nahmen sie Reiter den Namen. Fortan war er "Häftling 1935", gekennzeichnet mit dem lila Winkel - bei den Nationalsozialisten das Symbol für die Zeugen Jehovas. Er überlebte nicht nur die unmenschlichen Bedingungen des Lageralltags, sondern auch den berüchtigten Todesmarsch Ende April 1945. Der Glaube gab ihm Kraft und Sinn. Seine Tochter Ingrid Portenschlager erklärte den Schülern anhand von Bildmaterial und den Überlieferungen ihres Vaters, was das Leben in einem Konzentrationslager bedeutete. Ein Leben voller harter Arbeit, Qualen, Folter und Tod.
Häftling trifft Peiniger
Nach dem Todesmarsch bekam Reiter ein Fahrrad von amerikanischen Soldaten bei Cham und fuhr zurück in die Heimat. Er heiratete, zog mit der Ehefrau drei Töchter groß. 1958 kaufte die Familie ein Auto. Der erste Ausflug ging mit den Kindern zurück nach Flossenbürg. Im Zuge dessen suchte er auch einen alten Peiniger, der ihm in Grafenwöhr die Worte "Lebend kommst du hier nicht mehr heraus" an den Kopf geworfen hatte. Obwohl Reiter laut seiner Tochter sein Leben lang keine Rache- und Hassgefühle empfand, wollte er dem Mann noch eine Nachricht überbringen. "Grüße von Ernst Reiter - Häftling Nr. 1935. Ich lebe noch", ließ er ihm ausrichten.
Portenschlager berichtete, dass ihr Vater den Kindern immer beigebracht hätte, das Positive im Leben und auch in den Menschen zu sehen. Er selbst lebte dieses Motto. Bei einer zufälligen Begegnung mit einem Kapo aus dem Flossenbürger Konzentrationslager, der ihn oft schwer misshandelt und geschlagen hatte, unterhielt sich Reiter mit ihm vollkommen freundlich. Er gab seinem ehemaligen Peiniger sogar ein Bier aus. "Wir sollen nicht auf Fehler schauen, sondern immer das Gute im Menschen suchen", erklärte er seinen Kindern. Die Menschen im dritten Reich seien durch die Propaganda verblendet worden.
"Tolerant ist man, wenn man andere Menschen respektiert und akzeptiert, wie sie sind. Und für beides war im Nationalsozialismus kein Platz", erklärte Esther Dürnberger. Man dürfe die Schicksale der Opfer nicht vergessen. Die Referentin der Organisation "Lila Winkel" hatte mit der Weidener Wirtschaftsschule den Vortrag organisiert. Warum Portenschlager in zweiter Generation die Geschichte ihres Vaters weiterträgt? "Mein Vati starb 2006. Er kann nicht mehr reden, aber ich kann es." Eine Gedenktafel in Flossenbürg und Stolpersteine in Graz erinnern an sein Leben.
Zur Person: Ernst Reiter
- Geboren am 11. April 1915 in Graz
- Vergehen: Wehrdienstverweigerer aus Glaubensgründen (Zeuge Jehovas)
- Verurteilt zu 18 Monaten Gefängnis, nach Verbüßung der Strafe ins KZ Flossenbürg deportiert
- Überlebender des Todesmarschs Ende April 1945
- Danach Rückkehr nach Graz, Arbeit als Handelsvertreter
- Gestorben im April 2006
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